REINIGUNGSGESELLSCHAFT

artistic venture at the point of intersection of art and society
Leitsystem zum Neuen
Leitsystem Zum Neuen ist ein Modellprojekt im ländlichen Raum. REINIGUNGSGESELLSCHAFT entwickelte über sechs Monate gemeinsam mit Bewohnern der Gemeinde Grambow in Nordwestmecklenburg ein partizipatives Kunstprojekt. Dieses hatte zur Aufgabe, ein neues Gemeinschaftsbewusstsein sowie neue Handlungsperspektiven anzuregen.
Damit sollte der Ausdünnung der Region und dem Verlust kommunaler Souveränität im ländlichen Raum entgegengewirkt werden. Basierend auf einer Umfrage über die Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven im ländlichen Raum, entwickelte die RG ein Leitsystem zum Neuen. Es besteht aus Verkehrsschildern, deren Piktogramme auf die Aufgaben der Zukunft verweisen. Ausgehend von strukturellen Herausforderungen wie demografische Entwicklung, Arbeitsplatzperspektiven, Lebenschancen im ländlichen Raum und Klimawandel, bietet das Leitsystem Orientierungspunkte zum gesellschaftlichen Handeln.

Unter der Überschrift Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst rief die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft ein Modellprojekt ins Leben. Im Rahmen des Pilotprojektes sollten Künstler_innen während eines Aufenthaltes auf dem Lande ein Kunstwerk für eine Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern schaffen. Dabei waren der Dialog mit den Bewohnern des Ortes und der Prozess der künstlerischen Arbeit Teil des Projektes. RG wurde von der Gemeinde Grambow, bei Schwerin, ausgewählt, um dort ein Kunstprojekt zu entwickeln und umzusetzen. Das Dorf Grambow hat ca. 700 Einwohner. Schwerin, die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, ist nur etwa zehn Kilometer entfernt. Diese Nachbarschaft hat unmittelbare Auswirkungen auf den Charakter des Dorfes. Seit die Siedlung im 14. Jahrhundert erstmalig erwähnt wurde, stand die Landwirtschaft im Mittelpunkt. Auch nach 1945, als durch Flüchtlinge die Einwohnerzahl sprunghaft anstieg, drehte sich das Dorfleben hauptsächlich um die Bewirtschaftung des örtlichen Gutes. Das Gut ist heute nach wie vor der größte Arbeitgeber im Ort, der die Flächen um Grambow bewirtschaftet. Die strukturellen Änderungen nach der deutschen Wiedervereinigung brachten einen einschneidenden Wandel der Lebensbedingungen mit sich. Während die Beschäftigung der Dorfbevölkerung in der Landwirtschaft radikal zurückging, setzte eine stetige Arbeitsmigration Richtung Westen ein. Nicht selten pendeln Grambower beruflich 80 bis 100 km nach Lübeck oder Hamburg. Gleichzeitig begann die Abwanderung junger Menschen, die sich beruflich überregional orientieren müssen. Parallel zu diesen Entwicklungen veränderte sich der Dorfcharakter, auch durch eine neu entstandene Eigenheimsiedlung. Deren Bewohner stammen oft aus urbanen Siedlungsräumen und sind beruflich an die Stadt gebunden. Im Zuge dieser Stadtflucht vergrößerte sich die Anzahl der Berufspendler um eine weitere Gruppe. Die Bevölkerungsentwicklung ist trotz dieser Zuzüge insgesamt negativ. Eine Besonderheit des Ortes ist das nahe gelegene Grambower Moor. Ein Großteil der Hochmoorlandschaft steht bereits seit den 1930er Jahren unter Naturschutz. Um den Artenreichtum des gefährdeten Moorgebietes zu erhalten, wurden vor allem in den 1990er Jahren durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Renaturierungsarbeiten ausgeführt. Das Moor ist ein bedeutender Rastplatz für Kraniche. Die Route der Zugvögel reicht von Skandinavien bis nach Nordafrika. Etwa zweihundert Kraniche überwintern jährlich im Moor wegen zunehmend milder Winter. Die Tierwelt reagiert damit auf die Klimaerwärmung. Seit 1998 existiert ein Wappen der Gemeinde Grambow, das drei fliegende Kraniche zeigt. Jeder Kranich symbolisiert einen der drei Ortsteile.

Zu Beginn der Projektlaufzeit lernte RG bei Gesprächen und Rundgängen durch das Dorf die Besonderheiten des ländlichen Raums kennen. Neben der Auseinandersetzung mit dem Naturraum und der regionalen Geschichte waren die Lebensbedingungen und existenziellen Schwierigkeiten im Dorf im Zentrum des Interesses. Dabei war es wichtig, engagierte Menschen und Initiativen aufzusuchen. Es fiel auf, dass zwischen alteingesessenen und neuen Dorfbewohnern kaum persönliche Verbindungen bestanden. Dies hängt mit fehlenden Arbeitsmöglichkeiten im Dorf zusammen, was eine hohe Pendlermobilität zur Folge hat. Durch die technischen Entwicklungen in der Landwirtschaft werden heute in der Region kaum noch Arbeitsplätze benötigt. Das Dorf verändert sich und mit ihm das Spannungsverhältnis zwischen ländlichem und urbanem Raum. Die Neusiedlung, deren Einfamilienhäuser seit 1990 durch eine staatliche Eigenheimzulage bis 2004/05 gefördert wurden, glich bei Projektbeginn einer Vorstadtsiedlung mit klein parzellierten Grundstücken. Neben den Eigenheimen nahmen Garagen und Carports, wo meist mehrere Fahrzeuge parkten, viel Platz ein. Ein eigenes Fahrzeug für fast jedes Familienmitglied wurde zur wichtigsten
Überlebensgrundlage. Der öffentliche Nahverkehr verband den Ort mit der Außenwelt nur an wenigen Tagen der Woche. Weiterhin gab es keine Einkaufsmöglichkeiten im Ort. Der nächste Supermarkt befand sich im Nachbardorf. Die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Dienstleistungen, wie Ärzten, Schulen und Kultureinrichtungen, wurde zur infrastrukturellen Herausforderung. Das Internet befand sich 2009 noch im DFÜ-Zeitalter (Datenfernübertragung, ein Übermittlungsprotokoll, das in den 1980er Jahren entwickelt wurde). Diese Faktoren boten schlechte Vorraussetzungen, um junge Menschen an das Dorf zu binden oder für ein Leben auf dem Land zu gewinnen.

Wie kann es gelingen, unterschiedliche Lebensauffassungen zu vereinen und das Dorf als soziale Mikrozelle zu stärken? Zur Beantwortung dieser Frage unternahm RG den Versuch, das Dorf in die Zukunft zu projizieren, mit dem Ziel, gemeinsame Aufgaben und damit eine neue, gemeinsame Identität zu finden. Im Mittelpunkt standen strategische Überlegungen, wie die Existenz des Dorfes nachhaltig und unabhängig gesichert und gestaltet werden kann. Die Bewohner Grambows waren eingeladen, bei mehreren öffentlichen Terminen ihre Gedanken mitzuteilen und Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Von der RG wurde ein Fragebogen erarbeitet, den alle Haushalte in Grambow erhielten. Die Auswertung ergab, dass Möglichkeiten für mehr Gemeinsamkeiten und ein besseres Zusammenleben fehlen. Auf die Frage der RG nach den Vorteilen des Landlebens wurden die Naturnähe, ein ruhiges Leben und gute nachbarschaftliche Kontaktmöglichkeiten genannt. Deutlich wurde aber auch, dass genau diese Vorteile in der ländlichen Realität immer mehr verschwinden. So wurden als Probleme genannt, dass intensiv genutzte landwirtschaftliche Großflächen eine Barriere zur Natur darstellen. Das ruhige Leben wird durch die Betriebsamkeit des Pendlerverkehrs eingeholt. Damit verbunden ist auch, dass es wenige zeitliche Möglichkeiten gibt, Nachbarn kennenzulernen.

Die Ergebnisse der Umfrage wurden in Form einer Ausstellung im Gemeindehaus vorgestellt und im Anschluss mit den Anwesenden diskutiert. Dabei wurden die infrastrukturellen Nachteile und die Defizite der voranschreitenden demografischen Entwicklung besonders deutlich. Als konkreter Vorschlag wurde zum Beispiel die Schaffung eines Dorfladens zur Verbesserung der Versorgung und der Kommunikation genannt. Auch die Verbesserung der Infrastruktur für alte Menschen kann dazu beitragen, im Dorf wohnen zu bleiben. Diese und andere Vorschläge, wie das Dorf der Zukunft aussehen könnte, wurden mit der Gegenwart verglichen. Dabei wurde deutlich, dass nur durch Eigeninitiativen der voranschreitenden Verschlechterung des ländlichen Lebens begegnet werden kann. Als erste Initiative zur Verbesserung der dörflichen Beziehungen wurde der Grambower Moorbote gegründet, ein Informationsblatt, das seitdem monatlich erscheint. Es wird durch eine ehemalige Redakteurin ehrenamtlich betreut und von weiteren ehrenamtlichen Helfern vervielfältigt, gefaltet und an alle Haushalte verteilt. Mit dem Moorboten entstand eine Zeitung, mit der sich erstmals alle Menschen der Gemeinde über die Geschehnisse im Dorf informieren und austauschen können. Als Ergebnis der Befragung entwickelte RG zwölf Piktogramme, welche die zukünftigen Herausforderungen und mögliche Handlungsfelder für Eigeninitiativen der Dorfbewohner versinnbildlichen. Als Leitsystem zum Neuen wurden die Piktogramme auf Verkehrsschildern zentral im Dorf aufgestellt. Es handelt sich um Zukunftsthemen wie Arbeitsplatzperspektiven, demographischer Wandel, alternative und unabhängige Energiekonzepte, Einzelhandel mit Produkten aus der Region sowie die kommunale Souveränität. Die Hinweis und Warnschilder sind als Agenda täglich für die Bewohner sichtbar.

Seit 2009 hat sich viel ereignet. Im Gemeindehaus entstand eine Bibliothek. Die Bücher stammen aus Spenden. Die Regale wurden in Eigeninitiative gebaut. Im Herbst 2010 wurde der Verein Unser Grambow gegründet
mit dem Ziel, zu einem späteren Zeitpunkt eine Genossenschaft für das Wirtschaftsleben der Gemeinde auszugründen. Eine Machbarkeitsstudie wurde in Auftrag gegeben und Anschubfinanzierungen konnten einen Anbau an das Gemeindehaus die räumlichen Bedingungen eines Dorfladens, ermöglichen. Der Dorfladen findet große Zustimmung. Um den Laden betreiben zu können, wurde die Genossenschaft ,Unser Dorfladen‘ gegründet. Diese hat 60 Mitglieder, die insgesamt 70 Anteile á 200 Euro gekauft haben. Im Oktober 2014 wurde der neu geschaffene Dorfladen eingeweiht. Auf einer Fläche von 180 qm kann man vom Apfel bis zur Zahnpasta mehr als 1000 Artikel kaufen. Außerdem befindet sich im Laden ein Paketshop. Der Dorfladen ist mehr als eine Verkaufseinrichtung. Als Treff- und Kommunikationsort stiftet er Identität. In Grambow öffnete auch einer der beiden Imker ein eigenes Geschäft mit diversen Honig- und Bienenwachsprodukten. Das Gut in Grambow investierte in den vergangenen Jahren in eine 500 kW Biogasanlage zur Stromeinspeisung. Unweit der Biogasanlage entstand eine Gärtnerei, die seit Juni 2012 den Betrieb aufgenommen hat. Die Gärtnerei wird durch die Wärmerückkopplung mit der Abwärme der Biogasanlage versorgt. Sie baut Biogemüse und Küchenkräuter an, die im eigenen Hofladen erntefrisch verkauft werden. Die Dorfbewohner sollen in den kommenden Jahren ebenfalls die Abwärme der Biogasanlage nutzen können. Hierfür soll die Genossenschaft in den Ausbau des Netzes investieren und gleichzeitig Eigentümer des Netzes werden. Dies ist die Grundlage einer unabhängigen, dezentralen und stabilen Energieversorgung. Das Dorf kann in seiner Energiebilanz so eine deutliche Einsparung von CO2-Ausstoß erreichen und einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.
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